1959 wurde die Friedensfahrt zum ersten Mal in Berlin gestartet. Als Polen und Tschechoslowaken nach den ersten sieben gemeinsamen Friedensfahrtjahren „Neues Deutschland“ und dem DDR-Radsportverband den Vorschlag machten, die Hauptstadt der DDR zum ersten Mal als Startort zu wählen, war man in Berlin begeistert, sah sich aber mit einigen echten Problemen konfrontiert. Vor allem mangelte es an der nötigen Hotelkapazität.
Rund 400 Teilnehmer und Begleiter für rund fünf Tage unterzubringen, war faktisch unmöglich, ohne ernste Probleme heraufzubeschwören. Dann kam jemand auf die kühne Idee, das Quartier der Parteihochschule in Pankow für den Zeitraum von der Anreise der ersten Mannschaften bis zum Aufbruch des Konvois Tage in ein regelrechtes „Friedensfahrtdorf“ zu verwandeln, doch war die Hochschulrektorin -gelinde formuliert- von dem Gedanken nicht sonderlich begeistert. Für eine Woche die Hochschulstudenten in Ferien schicken? Unvorstellbar! Und alle Bewohner der Zweibettzimmer aufzufordern, ihre Utensilien in einem der beiden Kleiderschränke unterzubringen und denanderen für die Rennfahrer aus fremden Ländern zu räumen? Ebenso unvorstellbar! Der Autor war zufällig in der Nähe, als das deswegen von der Rektorin angerufene Politbüro zusammenkam. Der Tagesordnungspunkt war in weniger als zehn Minuten erledigt.
Etwa sieben Minuten währte der Vortrag, mit dem die Ablehnung des Vorschlags begründet wurde, höchstens zwei Minuten die Darlegung der für das Vorhaben sprechenden Argumente, die verbleibende Minute verblieb dem Protokollanten, den Beschluss zu notieren: Die Teilnehmer der Friedensfahrt werden im Internat der Parteihochschule untergebracht. Damit war der Weg frei, eine Art olympischen Dorfes in dem zwischen Rasenmatten und Kiefern faktisch mitten in der Stadtmärkische Landschaft präsentierenden Objekt zu eröffnen. Als erstes wurde ein „Bürgermeister“ für das 33.000 qm umfassende „Dorf“ gesucht und auch schnell gefunden. Kurt Edel, einer der besten 400m Läufer der Nachkriegsjahre und von 1951 bis 1955 Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der DDR schien die ideale Person zu sein und willigte auch sofort ein. Es wurden Pläne geschmiedet, die bei den Gästen den Eindruck erwecken mussten, sie seien tatsächlich Bewohner einer an „olympische Dörfer“ erinnernden Unterkunft.
Dazu gehörte zum Beispiel, dass bei der Ankunft der insgesamt 18 Mannschaft nach der Begrüßung durch den „Bürgermeister“ die Nationalhymne des jeweiligen Landes gespielt wurde. Tatsächlich gelang es Kurt Edel und seinen Mitstreitern der Berliner Premiere zum Auftakt der der XII. Friedensfahrt ein besonderes Flair zu verleihen. Aber schon sehr bald stellten sich Probleme ein, die niemand hatte, vor aussehen können. Zu den Mannschaften die erstmalig für die Fahrt meldeten gehörte Monaco. Der Masseur des monegassischen Verbandes hatte Jahre in deutschen Konzentrationslagern gelitten, von einem belgischen Kollegen während der Tour de France von der Friedensfahrt gehört und sich darum bemüht, dass sein Verband die Meldung abgab. Da Monacos erfolgreichster Profi, Vitetta, sechsfacher Tour-de-France Teilnehmer, sofort bereit war, mitzumachen und die Klausel, wonach eine Mannschaft neben drei Amateuren auch drei „Unabhängige“ -Zwischenkategorie zwischen Amateuren und Profis- ihm die Teilnahme gestattete, wenn er eine „Unabhängigen“-Lizenz löste, stand der Teilnahme Monacos nichts mehr im Wege. Bis auf eine Hürde, die kaum jemand hatte voraussehen können: Niemand wusste in Berlin, wo man die Nationalhymne Monacos auftreiben könnte.
Da es durchaus denkbar war, dass dieMonegassen gemeinsam mit einer anderen Mannschaft anreisten, drohte die Gefahr, dass man Monaco ohne Hymne begrüssen musste. Ein Brief an jenen, inzwischen aufgefundenen Masseur, blieb ohne Antwort, aber schließlich fand man eine Variante, dass jemand ihn im Zug fragen konnte, ob ihn der Brief erreicht und er eine Platte eingepackt hatte. Er wies auf seinen Koffer und versicherte, sie dabei zu haben. Auf dem Ostbahnhof übernahm sie der unvergessene Friedensfahrt Fotograf „Piepe“ Rowell, schwang sich auf sein Motorrad und raste nach Pankow. Dort löste er Entsetzen aus. Man hatte mit einem Tonband gerechnet und als man endlich einen Plattenspieler aufgetrieben hatte, stellte sich heraus, dass die Platte mit einer Geschwindigkeit aufgenommen worden war, über die das Gerät nicht verfügte. Man bestürmte Nachbarn in der Gegend und als die Monegassen eintrafen, dröhnte ihre Hymne aus den Lautsprechern. Die Gäste – bis auf den eingeweihten Masseur – waren sprachlos. Noch nie war irgendwo ihnen zu Ehren die Hymne gespielt worden!
Alle noch so rührigen Pläne der Initiatoren des ersten Auftakts in Berlin drohten in einem Unwetter zu versinken. Dauerregen schienkeinen anderen Ausweg zu lassen, als die so gründlich vorbereitete Eröffnungszeremonie zu streichen. Die Potsdamer Wetterpropheten warnten vor jedem Optimismus und schlossen nach ihren Karten einen Wolkenbruch nicht aus. Aber die Friedensfahrt-Organisatoren wollten nicht aufgeben. Sie setzten sich mit der Handelsorganisation HO ins Benehmen und bestellten 120 Regenumhänge, damit jeder Teilnehme wettersicher ins Stadion gelangen konnte. Die Kosten waren nirgends geplant aber ein pfiffiger HO-Händler wusste einen Ausweg: Wenn die Eröffnung vorüber ist, schicken wir eine Schar von Verkäuferinnen auf die Zuschauerränge und bieten die Mäntel als besonderes Wetterservice an, wobei noch versichert werden könnte, dass ausgerechnet der gerade angebotene bei der Zeremonie von Täve Schur getragen worden. Als die Wolkenbruchdrohung einging, wurden noch 120 Regenschirmegeordert, die dann aber zurückgegeben werden konnten – der Wolkenbruch blieb aus.
Kurz vor dem Aufbruch aus dem Friedensfahrt-Dorf wurden die Mannschaftsleiter zusammengerufen und ihnen mitgeteilt, dass die Betreuer Umhänge verteilen würden, die aber vor dem Startunversehrt zurück zugeben waren. Außerdem sollten die Rennfahrer statt der Renntrikots zunächst ihre Trainingsanzüge anziehen. Alles klappte reibungslos und die Rennfahrer waren froh,wenigstens trocken zur Etappen „Rund um Berlin“ aufbrechen zukönnen. Als am Ende der Fahrt in Warschau die Mannschaftsleiter zusammenkamen, um auch - das eine bei keinem anderen Rennen übliche Gewohnheit– über den besten Etappenort zu befinden, meldete sich nach kurzer Debatte der belgische Mannschaftsleiter zu Wort: „Liebe Freunde, mir scheint ein dringendes Wort zu Berlin nötig. Glauben sie mir, ich bin in der Welt des Radsports zu Hause, ich bin einige Male die Tour de France mitgefahren, ich denke mir auch ein Urteil über Organisation erlauben zu können. Erinnern Sie sich an den Regen in Berlin? Die Berliner Organisatoren hatten selbst mit solchem Unwetter gerechnet, niemand wurde beim Eröffnungszeremoniell naß! Das war die Spitze!“ Die Rede blieb nicht ohne Echo. Berlin erhielt die meisten Stimmen.
Zurück zum Tag des Auftakts. Der Belgier Rene Vanderveken meldete sich am Abend beim „Dorf-Bürgermeister“ und bat darum, vor dem Aufbruch nach Magdeburg am nächsten Morgen eine katholische Frühmesse besuchen zu dürfen. Der „Bürgermeister“ telefonierte mit Pfarrern, erkundigte sich vor allem nach den Terminen und ließ Vanderveken dann mit dem belgischen Mannschaftswagen zur Kirche chauffieren. Im Kampf um den Etappensieg mochte Täve Schur davon geträumt haben, in seiner Heimatstadt zu gewinnen. Der Sprint war hart, Vanderveken gewann, Täve wurde Vierter. Am Abend nach seinem Motiv für den Kirchenbesuch befragt, lachte Vanderveken: „Natürlich habe ich mir den Etappensieg nur selbst zuzuschreiben, aber jemand hatte mir in Belgien erzählt, wir führen in ein Land, in dem keine Kirchen mehr stünden und nun wollte ich auf Gottes Hilfe setzen und obendrein herausfinden, was man mir da erzählt hatte.
Die Ankunft der Italiener in Berlin war besonders gefeiert worden. Mehr als einmal waren ihnen in den Jahren zuvor die Visa einen Tag zu spät ausgehändigt worden, so dass sie nicht rechtzeitig anreisen konnten und auf die Teilnahme verzichten mussten. Der Teamchef Giovanni Proietti, legendärer Radsporttrainer und während des Krieges Kommandeur einer Partisaneneinheit hatte diesmal das römische Außenministerium im Palazzo Chigi brillant überlistet. Er hatte den Start der Friedensfahrt in seinen Anträgen auf den 26. April „vorverlegt“ und als man ihm am 28. April die Visa zynisch grinsend und mit endlosen Erklärungen für die Verzögerung aushändigte, verzog er keine Miene, steckte die Pässe in seine Mappe und fuhr mit der Mannschaft zum Flughafen. Er wusste, dass er rechtzeitig zum Start am 2. Mai in Berlin sein würde. Übrigens hatte er ein zusätzliches Rad mitgebracht. Bei einem früheren Empfang in Karl-Marx-Stadt hatte ein Junger Pionier die Mannschaft begrüßt und mit ihr den Abend am Tischgesessen. Nun hatte Proietti ihn eingeladen und schenkte ihm das Rad.
Auf der 225-km-Etappe von Prag nach Brno erkämpfte sich Täve vom Italiener Venturelli das Gelbe Trikot. Zwar triumphierte Venturelli tags darauf in Gottwaldow und jagte Täve über vier Minuten ab, aber die reichten nicht, um das Gelbe Trikot zurückzuholen. In Warschau am Ziel feierte Täve seinen zweiten Friedensfahrtsieg vor Vanderveken und Venturelli. Auf den 14. Platz kam ein Rennfahrer mit dem Vornamen Pawel, der in seinem Leben schon viele bittere Stunden erlebt hatte. Als vor dem Winterpalais in Leningrad während der Belagerungdeutsche Granaten krepierten und Brot so rar war wie Platin und Gold, war er elf Jahre alt. Eines Tages trugen sie seine Eltern auf einen Friedhof. Sie waren verhungert. Er wußte, daß in den Schützengräben rund um Deutsche lagen und daß Deutsche die Stadt aushungerten. Nach dem Krieg wuchs er in einem Waisenhaus auf. Er wurde nicht sehr groß, war aber stark und zäh und eines Tages ein erfolgreicher Rennfahrer. Pawel hatte den Deutschen nicht vergessen, dass sie seine beiden kleinen Schwestern und seine Eltern ermordet hatten. Aber am Ziel der Friedensfahrt sagte er auch: „Ich habe hier andere Deutsche getroffen, Deutsche, mit denen ich leben und auch befreundet sein kann.
Auch damals stand der Hass gegen die DDR stand schon in voller Blüte. „Das Parlament“, Organ der Bundesregierung, über dieFriedensfahrt: „Das Geheimnis der zehn Millionen Zuschauer erklärt sich nicht aus der Faszination des Rennens oder demWunsch, für den Frieden zu demonstrieren. Da ist der Druck auf die Bevölkerung, der Veranstaltung beizuwohnen und den ausländischen Teilnehmern Friedensbotschaften auszuhändigen."
Klaus Huhn